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Die weisse Jungfrau von Tschöpperli

An dem Tag, das sag ich euch, lag etwas in der Luft. Ich bin bei der Ruine Tschöpperli unterwegs. Es wird schon langsam dunkel. Alles ist still, so still, dass es einem unwohl wird. Kein Rascheln der Blätter. Kein Vogel, der sich regt. Nur diese drückende, unnatürliche Stille. Mein Herz hämmert mir bis zum Hals. Eine Kälte kriecht mir den Rücken hinunter.

Da taucht sie plötzlich auf – die weisse Jungfrau. Sie schwebt heran. Ihre langen, goldenen Haare glänzen im fahlen Licht. Ihre Haut ist so hell, dass sie fast leuchtet. Ihre Figur ist schlank und elegant. Jede Bewegung wirkt so fliessend, als würde sie auf einem unsichtbaren Wind tanzen. Doch dieser Anblick ist alles andere als beruhigend. Etwas Fremdes wohnt in ihrem Blick. Es ist eine Macht, die einen anzieht und gleichzeitig abweist.

Sie kommt näher, und mein Körper erstarrt. Ich will mich bewegen. Will wegrennen. Aber meine Beine sind wie festgewachsen. Meine Hände zittern. Mein Atem bleibt mir in der Kehle stecken. Sie lächelt. Dieses Lächeln ist so verführerisch, dass es einem den Kopf verdreht. Doch dahinter lauert etwas Kaltes, etwas Unberechenbares. Ihre Lippen sind weich und voll, aber ihr Blick ist kalt und schneidend. Es fühlt sich an, als könnte sie bis in meine Seele sehen.

Mein Herz schlägt so heftig, dass ich denke, es könnte jeden Moment zerspringen. Ihre Anwesenheit lähmt mich. Es ist, als ob eine unsichtbare Hand meinen ganzen Körper umklammert. Sie hebt die Hand. Zart und elegant. In diesem Moment fühle ich eine Kälte, die mir bis ins Mark schneidet. Schönheit und Schrecken vermischen sich, und ich weiss nicht, ob ich staunen oder schreien soll.

Dann wendet sie sich ab. Sie gleitet zum Quellwasser und kämmt sich die Haare. Jeder Strich mit dem Kamm klingt wie ein unheilvolles Lied, das die Dunkelheit durchschneidet. Als sie schliesslich verschwindet, bricht die Starre. Ich sacke beinahe zusammen. Meine Glieder fühlen sich an, als hätte ich einen ewigen Kampf gegen eine unsichtbare Macht geführt.

Einige Fronfastenkinder behaupten, sie hätten die Jungfrau auch gesehen. Aber ich weiss, was ich erlebt habe, und dieser Anblick – so schön und so unheimlich – wird mir nie aus dem Kopf gehen.

Baschta! So isch’s!

Die weisse Frau von Tschöpperli. Erzählung am Stammtisch. © Heimatmuseum Aesch, 2024,  CC BY-ND 4.0 
Frei nach
P. Suter/E. Strübin, Baselbieter  Sagen. Quellen und Forschungen zur  Geschichte und Landeskunde des  Kantons Basel, Band 14. Liestal 1976